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AutorenbildMaike Stemmler

Klassenschwindel - Von unsichtbaren Arbeiterkindern.

Ich war früher diejenige, die im Hintergrund arbeitet. Die, die bei Sonne die Schirme auf der Terrasse aufspannt. Die, die extra Servietten an Tische bringt. Die, die vom Regen aufgeweichte Chicken Wings von Tellern kratzt. Ich war Servicekraft, everywhere. Stets zu Diensten. Lächeln, nett sein, an den richtigen Stellen bestimmt auftreten, aber nicht zu streng. Niemals müde wirken, auch wenn die Beine vor Anstrengung kribbeln wie ein Ameisenhaufen. Ich war mehr Funktion als Person. 


Dieses hintergründige Gefühl der Unsichtbarkeit zeigte sich nicht nur während meiner Arbeit im Restaurant als junge Erwachsene, sondern auch in den vergangenen Jahren als Projektkoordinatorin. Ich war die Spinne im Netz, die die Fäden zusammenhält; und ihren Job am besten macht, wenn man sie nicht bemerkt. Wenn die Scharniere des Projektmanagements so perfekt ineinander greifen, dass kein Knirschen zu hören ist. Mein Ziel: Antizipation aller Eventualitäten, um reibungslose Betriebsabläufe zu garantieren. 

plötzlich sichtbar 

In diesem Jahr dann ein plötzlich sanfter Wechsel: Ich gebe Workshops. Auf einmal stehe ich vor Personen und Gruppen, die mich skeptisch bis erwartungsvoll anschauen. Ich habe den Raum und die Position, Inhalte zu präsentieren, Gespräche zu moderieren, meine Einschätzung zu teilen. Menschen hören mir zu, auf eine neue Art und Weise. Momente, in denen ich mir der Macht, die ich situativ habe, bewusst bin. Ich erlebe mich dann manchmal wie von außen betrachtet; sehe mich sitzstehend auf einem Tisch vor einer Power Point Präsentation und habe Angst vor einem Blackout. Ich höre mich selbst reden und denke: Wer ist diese Person, die da spricht? 


hallo, Klassismus

Die Geschichte, die ich erzähle, ist meine. Doch sie ist auch strukturell geprägt. Ich bin in einem nicht-akademischen Haushalt aufgewachsen und war die Erste in meiner Kernfamilie, die an der Uni studiert hat. Ich weiß noch, wie überfordert ich am Anfang meines Studiums war. Was ist ein Modulhandbuch? Wie funktioniert eigentlich wissenschaftliches Arbeiten? Was will die These von mir? Ich war die ersten Monate vor allem damit beschäftigt, durch Beobachten und Fragen stellen die impliziten Regeln dieses neuen Systems zu verstehen. Das war rückblickend unglaublich mühsam. Doch die Ursache für meine Frustration habe ich hauptsächlich in meiner eigenen Unfähigkeit gesucht. Ich wusste damals nicht, dass nur 21% der Kinder von Nicht-Akademiker*innen überhaupt ein Studium beginnen. Im Vergleich dazu sind es 74% aus akademischen Familien. Und nur 8% aus nichtakademischen Familien machen den Masterabschluss. Bei Kindern von Akademiker*innen sind es 45%. 


Ich habe erst spät verstanden, dass ich von Klassismus betroffen bin, gerade weil dieser als Diskriminierungskategorie häufig weniger offensichtlich ist. Menschen sehen mir Klassismuserfahrung nicht an, weil ich nicht dem entspreche, was sich viele unter einer Person, die von Klassismus betroffen ist, vorstellen. Mein Habitus schreit privilegiert. Ich bin weiß, habe ein gepflegtes Äußeres, Sinn für Ästhetik und Sprachgefühl. In der Schule sagte mein Deutschlehrer zu mir, dass ich ja sicher aus einer Akademiker*innenfamilie kommen würde, weil ich sehr gute Noten hatte. I do not. Seit ich 14 Jahre alt bin, habe ich Nebenjobs. In der Schule, während meines Bachelor- und Masterstudiums und auch in den Semesterferien habe ich immer gearbeitet. Immer zusätzlich zu etwas anderem. Oder anstelle von Freizeit. Ich habe mein WG-Zimmer, meine Studiengebühren, meinen Lebensunterhalt und meinen Urlaub hauptsächlich selbst finanziert; abgesehen von rechtlich verpflichtenden Unterhaltszahlungen, die ich erhalten habe. Und während ich diese rechtfertigenden Zeilen tippe, stelle ich meine Erfahrungen in Frage und zögere, weil ich denke, dass das Maß an Klassismusbetroffenheit nicht ausreicht, um diesen Text schreiben zu dürfen. Classic/sm impostor. 


Das vermeintliche Wissen anderer darüber, wer ich bin, spricht mir oft nicht nur meine Erfahrungen, sondern auch meine Leistung ab. Weil viele davon ausgehen, dass ich nicht klassistisch diskriminiert bin, werden auch meine Erfolge häufig als Selbstverständlichkeit oder sogar Glück eingeordnet. Ich höre Sätze wie: Dir fällt doch eh alles zu. Das Argument ‘Zufall’ verdeckt höchstens strukturelle Ungerechtigkeit. Doch wenn wir glauben, was wir sehen – wie beschreiben oder erzählen wir dann das Unsichtbare?



free fall  

Ich habe mich in den letzten Monaten so rasant weiterentwickelt, dass ich beinahe nicht hinterherkomme. An manchen Tagen fühle ich deshalb eine Art Schwindel, denn: Fremdwahrnehmung ‘souverän’ und Selbstwahrnehmung ‘zweifelnd’ sind ein seltsames Paar. Ist mir schwindelig, weil ich anderen etwas vorschwindele? Die Diskrepanz der Wahrnehmungen löst ein Schwanken in mir aus. Es fühlt sich an, als ob unter meinen Füßen Wellen wären. Als würde ich stetig Orientierung finden und wieder verlieren; auf der Suche nach einem Bodenanker. 


All dem versuche ich, mit Ruhe und Wiederholung zu begegnen. Wende mich Menschen und Orten zu, die mir Sicherheit geben. “Für die Schwindelnden und die, die sie halten”, schreibt Hengameh Yaghoobifarah in der Widmung deren neuen Buchs – ich bin nicht allein. Ich wachse in mein neues Ich wie in ein zu großes Kleidungsstück rein. Vague it till you make it", sagte einst eine Freundin zu mir. Ich mag den Satz noch immer, weil er aus ‘fake’ ein weiches Explorieren macht. Die Formulierung einer forschenden Neugier nimmt den Druck, eine Maske tragen zu müssen. Sie lässt Unsicherheiten stehen und zu.


changes are inevitable 

Ich gewöhne mich langsam daran, dass ich nun eine Arbeit mache, in der ich erkannt werde. In der ich als Maike sichtbar bin. Ich gewöhne mich an Momente, in denen mich Menschen freudestrahlend auf Veranstaltungen begrüßen, und Sätze sagen wie: Ich habe dich schon oft auf der Webseite gesehen.” Ich habe ein Gesicht. 


Sichtbarkeit bedeutet aber auch Projektionsfläche. Menschen denken in mich das hinein, was sie sehen wollen. Diese - beruflich wie privaten - Projektionen zu sortieren, ist mitunter fordernd. Herauszufiltern, welche stimmen könnten, welchen ich entsprechen will und welche reine Illusion sind. Auch das wohl eine Konsequenz, wenn aus Funktion mehr Person wird. 


Im neuen Jahr ist eine Sache sicher: Für mich heißt es ab Februar 100 Prozent Detox Identity. Ich habe meinen bisherigen Nebenjob (*lol*) gekündigt und werde zukünftig all meine Arbeitszeit hier verbringen. Ich bin vorfreudig aufgeregt und konstruktiv zuversichtlich - trotz futura insecura.




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